Typografische Auswirkungen

So wie jede frühere Schrifttechnologie ihre eigenen typografischen Gesetzmäßigkeiten hervorgebracht hat, ist es verständlich, daß auch die digitalen Schrifttechnologien Neues, wenn auch nicht nur Besseres, mit sich bringen. Sie bieten viele gute und ‚intelligente‘ Features unter Berücksichtigung historischer wie auch heutiger Gegebenheiten. Durch ihren Einsatz eröffnen sich neue Möglichkeiten, aber auch neue Probleme und stellen ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten auf. Sie gewinnen an Geschwindigkeit, an Effizienz, an Vielseitigkeit, an der Anzahl der Benutzer und an Komplexität. Einige Auswirkungen die der Einsatz von digitalen Schriften mit sich bringt (nicht nur aus typografischer Sicht), stelle ich in diesem Kapitel dar.
 
 

Der Typograf

Durch die Verbreitung digitaler Schriften und den Einsatz der Rechner, versetzen sie viele in die Lage, selber zu gestalten und zu publizieren. Jedoch kennen sich (zum Glück(?!) der Typografen) die wenigsten in dieser Thematik aus, wodurch auch die innovativsten Technologien die Berechtigung dieses Berufsfeld nicht schmälert. Auch im Bereich der Schriftgestaltung und -herstellung zeichnet sich ein vergleichbarer Trend ab: "Interessant finde ich, daß sich bei den Schriften dasselbe wiederholt wie vor zehn Jahren beim DTP: Die Entwicklung von Typen ist nicht mehr das Geheimnis eines kleinen Kreises von Profis, sondern Allgemeingut. So kommt es, daß man professionelle Schriften wieder zu schätzen weiß." 106
 
 

Schriftskalierung

Wie schon beschrieben, ist eines der Hauptmerkmale der Outline-Schriften, die Möglichkeit des freien Umgrößens/Skalierens. Diese Eigenschaft beinhaltet selbstverständlich neben ihren Vorteilen auch Nachteile. Durch das freie Skalieren bietet sich die Möglichkeit an, alle Schriftgrade eines Fonts aus einem Mutter-Font zu erstellen. Dies resultiert in einer Reduzierung des Zeitaufwandes bei der Schriftgestaltung, der Fontherstellung, sowie der benötigten Datenmenge, da nur noch ein Schnitt gezeichnet, hergestellt und gespeichert werden muß. Der benötigte Raum für die Aufbewahrung digitaler Fonts erscheint nichtig im Vergleich mit dem benötigten Raum der Bleiletter beim Handsatz, oder der Letternnegative bei fotografischen Setzmaschinen.

Während des Handsatzes wurde sehr genau zwischen Textschrift (Brotschrift) und Headline-Schrift (Überschrift) unterschieden, wobei verschiedene Elemente die jeweiligen Schriftschnitte auszeichnen. Mit dem Skalieren wird der Autor jedoch in die Lage versetzt, die Funktionalität einer Schrift falsch/anders/neu zu interpretieren. Typisches Beispiel hierzu ist der sogenannte ‚Überhang‘. Er wird benutzt, um den optischen Täuschungen der Geometrie der Buchstabenformen vorzubeugen. Insbesondere gilt dies für den Höhenausgleich zwischen rechteckigen, runden und dreieckigen Formen. Um diesen Ausgleich herzustellen, werden Buchstaben, die dreieckige und runde Grundformen aufweisen, mit dem Überhang versehen. "Bei Dreiecken (z.B. die Buchstaben A und V) sollte die Höhe 3% und die Breite 5% größer sein als die entsprechende Quadratseite, um genauso hoch bzw. so breit zu wirken. Die genannten Prozentzahlen sind Mittelwerte." 107 Wird jedoch eine Brotschrift für Headlines oder für Plakate benutzt, wirkt der Überhang zu groß.


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Abb. 4.11-1
Überhänge verschiedener Buchstaben

Der jeweilige ‚optische‘ Schriftgrad (op = optical point) der verschiedener Schnitte einer Schrift beeinflußt desweiteren:

  1. die Strichstärken-Kontrast — je kleiner der ‚op‘ umso geringer,
  2. die Serifen-Ausprägung — je kleiner der ‚op‘ umso stärker,
  3. die Punzen — je kleiner der ‚op‘ umso weiter,
  4. die Buchstabenbreite — je kleiner der ‚op‘ umso breiter,
  5. die Laufweite — je kleiner der ‚op‘ umso weiter,
  6. den Zeilenabstand und — je kleiner der ‚op‘ umso größer,
  7. die x-Höhe — je kleiner der ‚op‘ umso größer.


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Abb. 4.11-2
Unterschiedliche Gestaltung der Buchstaben in Abhängigkeit vom Schriftgrad

Eine Schrift, die in kleinen Schriftgraden funktioniert, wirkt sich optisch in großen Graden oft grob sowie unelegant aus. Stimmt die Anmutungsqualität einer Schrift in mittleren und großen Graden, wird sie in kleinen Graden zu spitz und dürr, verdirbt dadurch die Lesbarkeit. Mittlerweile schaffen die MultipleMaster-Technologie mit der optischen Achse, sowie die GX-Technologie Abhilfe hierzu, die in ihren Kapiteln erläutert wurden.

Bei den heutigen ‚Revivals‘ älterer Druckschriften muß bei der Herstellung bzw. Digitalisierung neben den Zeichnungen (falls vorhandenen) oder Drucken auch die damalige Drucktechnik und die Papierqualität berücksichtigt werden. Wie im Kapitel 1.4 beschrieben, haben sie wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Letter gehabt.

Aus meiner Sicht kann gesagt werden, daß das Skalieren den Erkenntnissen 500jähriger Druckschriftenherstellung widerspricht — wohlgemerkt Druckschriftenherstellung. Ob die heutige Computertechnologie der alten Herstellung und Gestaltung folgen muß, bleibt strittig. Es sind auf jeden Fall alte sowie neue Anforderungen zu berücksichtigen.
 
 

Schriftskalierung für Webseiten

Eine wesentliche Problematik bei der Nutzung digitaler Outline-Schriften im Zusammenhang mit dem WWW hat seit geraumer Zeit für Aufsehen gesorgt — der Kopierschutz von Schriftdaten. Die Argumentation der Unterstützer für die Benutzung von Outline-Schriften in Webseiten liegt in der Begründung, daß es zu viele unterschiedliche Bildschirmauflösungen gibt und somit keine einhaltige Darstellung gewährleistet ist — was sowieso wegen technischen Unterschieden unstrittig ist (-> Kapitel 4.10). Gleichzeitig soll der User in den Genuß kommen, die vom Autoren tatsächlich benutzten Schriften sehen zu können. Die vielerseits gepriesene Interaktivität bzw. Individualisierung des Internets, Seiten mit eigenen Schriften sehen zu können, haben die meisten von ihnen wohl vergessen. Dabei dienen gerade diese Einstellungsmöglichkeiten (bestimmte Schriften, Schriftgrößen und Farben zu nutzen) einer, für das Ausgabegerät sowie für den User, flexiblen und optimierten Darstellung.
 
 

Schriftstile

Anwendungsprogramme bieten, in Zusammenhang mit verschiedenen Schriftformaten, unterschiedliche Darstellungsmöglichkeiten des Schriftbildes an. Standard, Bold, Kursiv, Unterstrichen, usw. sind Stile, die ‚on the fly‘ erstellt werden, benötigen bei manchen Programmen also keine individuelle Schriftdateien. Sie sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. (-> Kapitel 4.8)
 
 

Schrifttransformation

Unterschiedliche Effekte können durch bloße elektronische Transformation der Buchstabenformen erzielt werden. Die Schrift kann somit unproportional durch Verzerren oder Stauchen verändert werden, wodurch aber die spezifischen Eigenschaften einer Schriftart, sowie typografische Feinheiten verloren gehen.


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Abb. 4.11-3
Mitte — normaler Schriftschnitt bei 36/36pt.
Oben, unten, links und rechts — Stauchen und Verzerren in horizontaler und vertikaler Richtung.

In der Abbildung ist die Auswirkung der unterschiedlichen Transformationen anschaulich dargestellt. Je nach Richtung und Ausmaß verändern sich insbesondere die horizontale bzw. vertikale Strichstärken der Buchstaben. Horizontale Transformationen beeinflussen hinzu die Laufweitenveränderung — der Buchstabenzwischenraum wird mit verkleinert bzw. vergrößert. Vertikale Transformationen beeinflussen hinzu den optischen Zeilenabstand.
 
 

Erhöhung der Zeichenvielfalt

Normalerweise hat eine Schrift Akzentzeichen wie á, ò, í, usw. Diese Zeichen werden hergestellt, indem die jeweiligen Buchstaben mit einem Akzenten versehen werden. Dabei bleibt die Zeichenform der Grundbuchstaben (z.B. a) der Zeichenform der akzentuierten Buchstaben (z.B. á, à, â, ä, ã, å) gleich. Bei einem tatsächlich handgeschriebenen Text fallen jedoch alle Zeichen recht ungleich aus. Um eine annähernde Anmutung dieser unvollkommenen Gleichheit bzw. Vielfalt zu erreichen, ist mir bei der Erstellung handschriftlicher Fonts eine einfache Lösung eingefallen: akzentuierte Zeichen werden nicht von den Grundbuchstaben abgeleitet (was die Datenmenge des Fonts unwesentlich erhöht). Es werden separat gezeichnete Akzentbuchstaben angefertigt, wodurch gleichzeitig auch die Dickte differiert. Um die Unvollkommenheit der Handschrift noch mehr zu betonen, liegen die verschiedenen diakritischen Zeichen nicht auf gleicher Höhe.


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Abb. 4.11-4
Oben — ein und dasselbe Zeichen wird um die diakritischen Zeichen ergänzt
Unten — unterschiedliche Zeichen des ‚a‘

 
 

Zufallsorientierte Schrift

JUST VAN ROSSUM und ERIK VAN BLOKLAND von LettError haben einen zufallsgenerierten Type 3 Font erstellt — ‚Beowolf‘. Die sich ständig wechselnde Darstellung der Zeichen wird hergestellt durch ihre neue ‚freakto‘ Kommande im PostScript Kode. Sie ersetzt die normalerweise benutzten ‚lineto‘ und ‚curveto‘ Kommanden. Die neue Kommande ruft einen zufallsorientierten Generator auf, mit dem die Umrißlinien der Zeichen irregulär erscheinen. Die ‚Zufälligkeit‘ ist jedoch begrenzt, da sich die Stützpunkte der Umrißlinien nur in bestimmten Grenzen bewegen können. Aus meiner Sicht bietet sich gerade diese Technik hervorragend für handschriftliche Fonts.

Eine weitere Möglichkeit stellt die Schrift ‚Kosmik‘ dar. Es handelt sich um drei Type 1 Fonts, die mit einem Kode versehen sind (LettError nennen ihn ‚Flipper‘). Dieser Kode verfolgt die Zeichenbenutzung. Wird ein Buchstabe mehrmals hintereinander wiederholt (z.B. ‚ff‘ bei Schiffahrt, ‚mm‘ bei Kommentar, ‚fff‘ bei Sauerstoffflasche — auch hierbei ist wieder die Abhängigkeit zwischen der Typografie und der Grammatik, bzw. der Rechtschreibung ersichtlich), nimmt der Kode dies auf und benutzt den zweiten Font für den zweiten Buchstaben und den dritten Font für den dritten Buchstaben. Kommt ein Buchstabe vier mal hintereinander vor, wird er wiederum vom ersten Font dargestellt. Die ‚Kosmik‘ bietet noch eine weitere Möglichkeit. Es kann zwischen zwei Fonts hin und her schalten um den dritten Font erst nach dem dreißigsten Vorkommen eines Buchstabens zu benutzen. 108
 
 


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